Im
I. Band unseres Buches "Die DDR war anders. Eine kritische
Würdigung ihrer sozialkulturellen Einrichtungen"
konnten wir nur eine Auswahl wichtiger kritischer Darstellungen
vorlegen, weil der Umfang des bei edition ost erschienen Bandes
im Interesse eines möglichst breiten Leserkreises und
eines sehr erschwinglichen Preises begrenzt werden mußte.
Aber dies war nur die knappe Hälfte des aus unserem Forschungsprojekt
hervorgegangenen Gesamttextes. Deshalb haben wir die gleichzeitige
Veröffentlichung eines Ergänzungsbandes geplant,
den wir hiermit vorlegen.
Dieser Band erscheint aus zwei Gründen als
Typoskript, als "Werkstatt-Edition": Erstens, um
seinen Preis bezahlbar zu halten, zweitens aber - und dies
ist der wichtigere Grund - weil wir uns bei diesem Band entschlossen
haben, die inhaltliche und formale Verantwortung vollständig
und allein bei den Autoren zu belassen; andernfalls hätten
wir uns und die 18 (!) Texte einem unabsehhbaren Prozeß
der editorischen, redaktionellen Kritik unterwerfen müssen.
Umfang
und Charakter der hier versammelten Beiträge sind daher
auch unterschiedlich.
Entsprechend unseres Projektansatzes haben wir uns den Themenschwerpunkten
Kritische Grundlegung; Kultur/Literatur/Kunst; Bildung/Erziehung;
Partizipation; Recht; Sozialpolitik; Ökonomie zugewandt,
zu denen ausgewählte Studien sich in diesem Ergänzungsband
wiederfinden.
Mit dem einleitenden Beitrag von Petra Ullmann wird die Wirksamkeit
der herrschenden Geschichtspolitik, die die DDR vorrangig
als Geschichte einer totalitären Diktatur und des Weges
in den Untergang beschreibt, an Hand von in Berlin verwendeten
Geschichtsschulbüchern nachgezeichnet. Es ist nicht überraschend:
Die Geschichtspolitik zeigt ihre Wirkung. Horst Deutschländer
unternimmt einen Diskurs in die Soziokultur der DDR mit ihre
Wirkungen und Grenzen beim Umsetzen sozialistischer Ideale.
Einen breiten Raum auch im Ergänzungsband nehmen Kunst
und Literatur ein, in denen oft grundlegende emanzipatorische
Momente verwirklicht werden konnten, teilweise in Übereinstimmung
mit den offiziellen Zielsetzungen, oft in aktiver Auseinandersetzung
mit ihnen. Sie zeugten von der Verwurzelung humanistischer
und sozialistischer Ideale, die vielen Bürgern bis zuletzt
und teilweise auch über das Ende der DDR hinaus die Hoffnung
gaben, für eine gute Sache zu arbeiten. Während
Uwe Marx und Eberhart Schulz dies am Beispiel der Literatur
im großen Überblick unternehmen, konnten für
zwei Bereiche der politischen Alltags- und Gebrauchsmusik
vertiefende Studien vorgelegt werden. Antje Krüger zeichnet
dies für die Singebewegung der DDR nach, während
Amy Holmes Texte und Entwicklungen der DDR-Rock-Musik untersucht.
Wurden im Grundwerk bereits nachdrücklich die Leistungen
der DDR-Volksbildung bei der Entwicklung und Umsetzung des
polytechnischen Prinzips gewürdigt, ohne ideologische
Verklemmungen und Drangsalisierungen auszusparen, so unterwirft
Paul Mitzenheim das Gesamtsystems der Volksbildung einer kritischen
Sichtung. Roswitha Reinhold zeigt die Leistungen und Probleme
der Vorschulerziehung auf, während Christiane Hahn in
einem Ost-West-Vergleich die Anstrengungen bei der Förderung
von Lernschwachen nachzeichnet. Ulrike Sommer untersucht aus
westdeutscher Sicht gründlich die berufliche Erwachsenenbildung
und spart dabei die Einflüsse auf die bundesdeutsche
Diskussion nicht aus. In einen scheinbar politisch klar negativ
bewerteten Bereich, dem der Jugendarbeit und damit der quasi
staatlichen Jugendorganisationen, führt Christian Dietrich
(mithilfe der Auswertung einschlägiger Befragungen nach
dem Ende der DDR) ein. Das fast ersatzlose Verschwinden einer
materiell und personell stark geförderten Jugendarbeit
erweist sich heute als außerordentlicher Verlust für
die ostdeutschen Jugendlichen.
Franziska Rauchut und Elviera Thiedemann arbeiten in einem
umfassenden Beitrag die Bedeutung der Erwerbsarbeit (und der
sie ermöglichenden Rahmenbedingungen für die Frauen)
heraus, die früher und konsequenter als im Westen Deutschlands
wesentliche Grundlage für eine Gleichberechtigung der
Frauen legte, ohne sie aber umfassend verwirklichen zu können.
Diese Grundlagen haben aber trotzdem nicht nur das Selbstbewusstsein
der ostdeutschen Frauen im Vereinigungsprozeß gestärkt,
auch der erhebliche Gleichberechtigungsvorlauf in Arbeit und
Bildung blieb im vereinten Deutschland oft uneingelöst.
Hannah Behrend zeigt am Beispiel der demokratischen Mitgestaltungsmöglichkeiten
an DDR-Universitäten und Volker Schöneburg hinsichtlich
der Gesellschaftlichen Gerichte, wie selbst in den scheinbar
monolithischen, von der SED dominierten Machtstrukturen auf
bestimmten Ebenen demokratische Verhaltensweisen und Erfahrungen
erlebbar und gestaltbar waren.
Gerhard Tietze entwickelt an Hand der Arbeitsschutzes in der
DDR die Aufgaben und den Umfang der Sozialpolitik als einem
der zentralen Momente der DDR-Gesellschaft. Diese Sozialpolitik
prägt bis zum heutigen Tag wesentlich die DDR-Erfahrung
der Ostdeutschen positiv und hebt diese Erinnerung gegen die
Realität des neoliberalen Gesellschaft mit ihrer sozialen
Kälte positiv ab, ohne die politischen Verhältnisse
in der DDR zu verherrlichen oder gar wieder haben zu wollen.
Viola Schubert-Lehnardt kann dieses Herangehen der Ostdeutschen
an ihre jüngste Vergangenheit hinsichtlich der Erfahrungen
mit dem DDR- und nun dem gesamtdeutschen Gesundheitswesen
auf der Grundlage von Befragungen exemplifizieren.
Hans Luft ergänzt seinen Aufsatz zu den Genossenschaften
in der DDR im 1. Band mit einer noch präziseren Zusammenfassung
der Diskriminierungen, denen die ehemaligen LPGen nach '89
unterworfen waren. Jörg Roesler zeigt schließlich,
daß in Gestalt des Neuen Ökonomischen Systems,
der DDR-Wirtschaftsreform in den sechziger Jahren Möglichkeiten
einer Dialektik von Plan und Markt nicht nur diskutiert, sondern
zeitweilig auch praktiziert wurden, bis sie ideologischem
Dogmatismus zum Opfer fielen. Der Versuch einer Vermittlung
von Planungs- und Wettbewerbsinstrumenten und nicht ihre sture
Entgegensetzung, wie sie einst von den SED-Oberen und nun
von den neoliberalen Managern und Politikern gepredigt wird,
könnte den Ausweg aus den Grenzen beider Wirtschaftssysteme
eröffnen.
Wiederum erweist sich, wie im 1. Band, daß die DDR-Erfahrungen
"zukunftsfähig" sind: Es würde gesamtdeutschem
Fortschritt dienen, sie systematisch aufzuarbeiten. Manche
sozial-kulturellen Einrichtungen haben gerade in den ersten
beiden Jahrzehnten der DDR eine positive Wirkung entfalten
können – so bei der massiven Heranführung
von Jugendlichen aus Arbeiter- und Bauern-Familien, aus den
"kleinen Verhältnissen", an die Höhen
von Wissenschaft und Kultur. Mit der Entwicklung einer breiten,
aus diesen Kreisen entstandenen Intelligenz schwächten
sich solche Vorteile ab. Auch wirkten nicht nur die repressiven
Herrschaftsmethoden des Einparteienstaates, nicht nur die
Verhärtungen im Kalten Krieg, sondern auch die materiellen
Beschränkungen, etwa hinsichtlich der Bau- und Ausrüstungssubstanz
des Gesundheits- und Sozialwesens, immer bremsend.
Als Hauptmanko aller sozialkulturellen Einrichtungen der DDR
und wesentliche Ursache des Scheiterns des Staatssozialismus
überhaupt erwies sich das ständige Demokratiedefizit:
Die (paternalistisch-)autoritären Entscheidungen der
Parteiinstanzen vereitelten systematisch ein Abwägen
und eine öffentliche Diskussion um beste Lösungen.
So war die teilweise groteske Politik niedriger, hochsubventionierter
Preise, Mieten und Dienstleistungstarife ("Im Sozialismus
gibt es keine Preiserhöhungen!") eng mit diesem
fehlenden öffentlichen Diskussion verbunden, so daß
nicht zuletzt dadurch die DDR in den wirtschaftlichen Ruin
getrieben wurde. Dazu kam der teilweise pseudoreligiöse
Parteidogmatismus und eine abgedroschene "klassenkämpferische"
Agitation, so daß es nach 1989 der spiegelbildlichen
Westagitation leicht fiel, z.B. die Kunst, die Volksbildung
wie auch die Schul- und Jugendarbeit mit dem Etikett der "kommunistischen
Indoktrination" zu versehen.
Auch mit diesem Ergänzungsband konnte ein Zusammenarbeit
von west- und ostdeutschen Autoren dadurch erreicht werden,
daß in Seminaren unseres Forschungsprojekts wichtige
Teilthemen behandelt wurden. Was weithin noch aussteht, ist
das Aufzeigen der Wechselwirkungen zwischen den Entwicklungen
in beiden deutschen Staaten. Gerade in den fünfziger
und sechziger Jahren haben solche emanzipatorischen Ansätze
wie die Gleichberechtigung der Frau oder die Polytechnisierung
der Bildung auch westdeutsche Diskussionen befördert.
Die Herausgeber vermögen nur für die Zukunft einen
Anstoß zu geben. Auch über ein Jahrzehnt nach Herstellung
der staatlichen Einheit Deutschlands sind die geistigen Mauern
zwischen beiden Landesteilen groß. Nicht zuletzt die
Unwissenheit der meisten westdeutschen Landsleute und deren
Überzeugung, die in jeder Hinsicht bessere Gesellschaft
bereits errichtet zu haben, ist angesichts der heutigen gesellschaftlichen
Herausforderungen fatal. Dagegen finden wir die Überlegung
von Fernsehjournalisten des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR)
zu unserem Sammelband so posiotiv herausfordernd, daß
wir sie hier zitieren wollen: "Der Bundestagswahlkampf
hat begonnen. Große Parteien führen Gefechte mit
Pappschwertern um potemkinsche Dörfer. Die Lage ist ernst,
denn richtige Konzepte zur Lösung der Lage gibt es nicht.
Nicht nur dem Osten geht es schlecht. Der Sozialstaat dankt
ab. Nun melden sich einige Wissenschaftler, zum Teil auch
noch aus dem Westen, und sagen frech: So hätte das nicht
kommen müssen. Man hätte mit dem Einigungsvertrag
einige soziokulturelle Einrichtungen der DDR übernehmen
sollen. Fortschrittlicher, sozialer und humanistischer seien
sie gewesen. Aber die neue Geschichtsschreibung reduziert
die DDR auf einen Schurkenstaat. Ist das der Anfang eines
neuen Diskurses um die deutsche Geschichte?"
West- und ostdeutsche Wissenschaftler der älteren wie
der jüngeren Generation haben in der Tat etwas getan,
was den Beobachter in dem Eindruck bestärken kann, daß
hier ein Geschichtsbild umgekrempelt werden soll. Wir verweisen
hier, abschließend, noch einmal auf das in der Einleitung
zum 1. Band Gesagte: Obwohl die sowjetisch geprägte repressive
SED-Herrschaft in der DDR das Entstehen eines sozialistischen
Gesellschaftssystems vereitelt hat, ist dieses Sozialsystem
mit dem Etikett "SED-Diktatur" nicht ausreichend
beschrieben; denn es gab darin gleichwohl eine beachtliche
Anzahl humaner sozialkultureller Einrichtungen und Leistungen,
die diese Gesellschaft mitgeprägt haben, oft sogar gegen
die Absichten der SED-Führung. In diese Einrichtungen
haben Millionen aktiver Bürger der DDR ihre Lebenskraft
investiert. Die Herausforderung ist also eine doppelte: Die
Lebensleistung der Ostdeutschen zu würdigen, die mit
ihrer Gesellschaft eine antikapitalistische Alternative schaffen
wollten und Ideale des Humanismus wie der Arbeiterbewegung
zu verwirklichen trachteten. So kann gegen die Reduzierung
der DDR auf ein repressives Regime (die sie auch war) eine
komplexere Sichtweise gesetzt werden.
Und zukunftsorientiert: Nicht wenige sozialkulturelle Einrichtungen
der DDR sind für gesellschaftliche Alternativen zum marktradikalen,
neoliberalen Kapitalismus unverzichtbar. Auch die Beiträge
dieses 2. Bandes sind Belege für die These, daß
die DDR nicht zu Pauschalurteilen taugt. Deshalb muß
man sich nicht nur gegen die westdeutsch dominierte destruktive
Vergangenheitsbewältigung zu wenden, sondern die Ostdeutschen
sind in ihrem Selbstbewußtsein zu stärken, sich
ihrer eigenen Geschichte zu versichern und einen Beitrag für
die Bundesrepublik zu leisten, nach dem Motto von attac: Eine
andere Gesellschaft ist möglich.
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